WARUM IST KURZSCHRIFT IMMER NOCH AKTUELL?

Immer wieder wird die Frage gestellt, ob es angesichts der technischen Möglichkeiten, die heute zur Aufnahme von Gesprächen und Schriftsätzen vorhanden sind, noch zeitgemäß und richtig ist, an der Realschule Kurzschrift als Unterrichtsfach anzubieten.

Die Realschule führt zum mittleren Bildungsabschluß. Behörden und Wirtschafts- oder Industriebetriebe erwarten von einem Realschüler, daß er nicht nur z.B. über Fremdsprachen-, Mathematik- und Physikkenntnisse verfügt; sie erwarten auch, daß er in der Lage ist, Informationen, Anordnungen und Unterweisungen aufzunehmen und zu verwerten.
Nachdem der Zeitfaktor überall eine zunehmende Rolle spielt, bleibt meistens keine Zeit zu langen Erörterungen, Wiederholungen und Reflexionen. Schon aus diesem Grund ist jener im Vorteil, der in der Lage ist, das Wichtigste in Kürze sachgerecht.für seine berufliche und private Verwendung und zur Gedächtnisstütze festzuhalten. Gute Stenografiekenntnisse sind ihm dabei eine unschätzbare Hilfe, was immer wieder von Ausbildern und Firmenchefs bestätigt wurde.
Viele gute Schüler streben nach gehobenen Berufen. Sie wollen über die Fachoberschule und ein Studium an Fachhochschulen Ingenieur, Betriebswirt, Sozialpädagoge u.a. werden. Bedeutet schon der Vorlesungsbetrieb an den Hochschulen im Gegensatz zu den Unterrichtsmethoden der bisher durchlaufenen Schulen für manchen Studierenden eine gewaltige Umstellung, so wird er in zusätzliche Schwierigkeiten kommen, wenn er nicht in der Lage ist, wesentliche Inhalte der Vorlesungen mitschreiben zu können. Dazu würden ihm solide Kurzschriftkenntnisse verhelfen, und unbestritten ist ihre Bedeutung auch im Privatleben.
Diktiergeräte in Büros und Kanzleien sind zwar zur Selbstverständlichkeit geworden, können aber den persönlichen Kontakt zwischen dem Diktierenden und seinem Mitarbeiter nicht ersetzen, weil eine Maschine keine Unterstützung im Hinblick auf Sachvorgänge, vorausgegangene Korrespondenz und sonstiges zu leisten vermag.
Im Unterricht der Realschule kommt der Kurzschrift auch große Bedeutung als flankierendes Fach zu. Stenografie fördert das grafische Sehen. Der Schüler muß Eigentümlichkeiten und Feinheiten erkennen, Ähnliches und Gegensätzliches auseinanderhalten und richtig reproduzieren können.
Dieses Genauigkeitstraining kommt letztlich nahezu allen Fächern zugute. Die Umsetzung der Kurzschriftregeln in systemrichtiges Schreiben schult das logische Denken. Das ständige Wiederholen und Üben bringt eine Festigung der Grammatik- und Rechtschreibkenntnisse. Der Zwang zur Textspeicherurig sowie das Erfassen des Inhalts beim Schnellschreiben fördern die Konzentrationsfähigkeit. Gerade sie ist im Berufsleben besonders wichtig. Die Reproduktion aufgenommener Texte verlangt von den Schülern zum einen die Beherrschung der Interpunktion, der Orthografie und der Grammatik, zum anderen müssen sie in der Lage sein, kleine Lücken im Stenogramm sinngemäß und dem Sachverhalt entsprechend zu ergänzen. Diktatstoffe aus allen Sachgebieten fördern das Allgemeinwissen und ermöglichen Querverbindungen zu anderen Unterrichtsfächern. Schon während des Realschulbesuches zieht der geweckte Schüler Nutzen aus seinen Stenografiekenntnissen. Im Unterricht kann er Erklärungen des Lehrers oder wichtige Beiträge von Mitschülern, die nicht im Lehrbuch oder Heft vermerkt sind, rasch niederschreiben. Mit Hilfe dieser Aufzeichnungen läßt sich zu Hause bei der Nachbereitung die Situation besser vergegenwärtigen. Dadurch werden Verständnis und Aufnahme des Unterrichtsstoffes erleichtert. Stoffsammlungen, Gliederungen und Ausarbeitungen von Aufsätzen, die in Kurzschrift vorgenommen werden, helfen wertvolle Arbeitszeit einsparen, die dazu genützt werden kann, das Thema gründlicher zu durchdenken.
Obwohl die Vorzüge des Stenografierens unverkennbar sind, muß man sich fragen, worin die Ursachen dafür liegen, daß die Leistungen der Schüler in diesem Fach in den letzten Jahren geringer werden. Ein Grund mag in der für Schüler typischen Haltung liegen, genau zu berechnen, welche Noten in welchen Fächern erzielt werden müssen, um das Klassenziel zu erreichen bzw. die Abschlußprüfung zu bestehen. Für diese Annahme spricht der Leistungsrückgang im Fach Kurzschrift, seit es aus dem Kanon der Vorrückungsfächer herausgenommen wurde und damit an motivierender Kraft eingebüßt hat. Aber Leistungsbereitschaft und Leistungsstreben auch im Fach Kurzschrift tragen ihre Früchte spätestens im Berufsleben, wie Entlaßschüler immer wieder bestätigen, wenngleich oft etwas zu spät.
Der Vorteil, Gespräche, Situationen und Gedankengänge im Stenogramm aufnehmen zu können, wird für die Schüler erst einsichtig, wenn sie die Verkehrsschrift einigermaßen beherrschen. Aber auch hier ist vor den Erfolg der Schweiß gesetzt. Bis der Schüler so weit kommt, muß er viel Willen und Fleiß aufbringen. Zwar ist der Wille zu entsprechender Leistung und Fertigkeit anfänglich gegeben, aber nicht alle bringen vier Jahre lang die zum Durchhalten notwendige Energie auf, obwohl mit dem Können auch die Lust zum Stenografieren wachsen müßte.

Maschinenschreiben, auch eine Sache der Übung und Konzentration

Anders ist dagegen die Situation im Maschinenschreiben. Hier erkennt der Schüler die Notwendigkeit und den Nutzen viel früher, weil er das in der Schule Erlernte verhältnismäßig bald aus privaten Anlässen einsetzen kann, auch wenn Schreibgeschwindigkeit und Schreibsicherheit noch nicht groß sind. Daraus erklärt sich ein besserer Anreiz zum Maschinenschreiben als für Kurzschrift. Bessere Leistungsnachweise und Noten in diesem Fach beweisen dies.
Eine vordringliche Aufgabe des Lehrers für Kurzschrift ist es, bei den Schülern Einsichten zu schaffen, sie zu motivieren und ihnen in der unterrichtlichen wie privaten Anwendungsmöglichkeit zu zeigen, daß Kurzschrift nicht ein „überflüssiges Anhängsel“ ist, sondern in der Regel im späteren Leben für sie mindestens den gleichen Nutzen haben wird wie manches andere, von ihnen jetzt favorisierte Fach.

Therese Hartmann
Fachlehrerin für Kurzschrift und Maschinenschreiben